Enikös Sängerinnen schweben mühelos auf höchste Höhen


Die Stimmung im Chor muss gut sein, damit die Stimme stimmt. „Schlechte Laune und Sorgen schnüren die Kehle ab, dann kommt kein klarer Ton heraus" - die gebürtige Ungarin Enikö Szendrey-Kurpjuweit weiß wovon sie spricht: Die 43-jährige Sängerin ist seit 20 Jahren Gesangslehrerin und trat vor zehn Jahren ihre erste Chorleiterstelle an: beim Frauenchor des Sängerbunds Vockenhausen. Damals sangen 19 Sängerinnen mit, heute kommen knapp 50 Frauen zu den wöchentlichen Proben am Montagabend. Neben Aufwärmphase und Stimmbildung gibt's zu Anfang jeder Übungsstunde ein Ständchen für jedes Geburtstagskind, und spätestens danach haben alle die Alltagssorgen abgelegt und sind bereit, sich auf
die Welt der Töne ein zulassen.

„Ich arbeite viel mit Bildern und der Vorstellungskraft", sagt Enikö Szendrey: „Für manche Töne müssen sich die Frauen vorstellen, sie hätten einen 140 Kilogramm schweren Resonanzkörper, dann wieder müssen sie ihre Arme nach oben öffnen, sich eine unendliche Weite vorstellen, um die hohen Obertöne rein
und klar herauszubringen."

Sie selbst hat ihre Gesangsausbildung und das Chorleiterdiplom schon in Ungarn am Konservatorium in Budapest gemacht und wechselte 1982 an die Musikhochschule nach Hamburg, wo sie ihre Diplome für Sologesang, Gesangspädagogik und Operngesang absolvierte. In Hamburg lernte sie vor knapp 20 Jahren ihren Ehemann Udo Kurpjuweit kennen. Sein beruflicher Werdegang führte ihn nach dem Studium nach Eppstein, wo das Ehepaar seit 1988 direkt am Waldrand in der Taunusstraße in Vockenhausen wohnt. Töchterchen Mila war damals gerade ein Jahr alt und Enikö in der Erziehungspause. 1990 hatte sie Glück und bekam die Stelle des 1. Sopran am Wiesbadener Staatstheater. Als Mila 1993 in die Schule kam, gab Enikö schweren Herzens die Stelle auf: „Aber die Familie war mir immer wichtiger als mein persönlicher Erfolg". Dann brachte der Zufall sie mit dem Vockenhäuser Frauenchor zusammen: Der Sängerbund suchte für seine Sängerinnen einen neuen Chorleiter, eine der Sängerinnen sprach sie an, Enikö stellte sich vor und wurde von den Frauen unter den Mitbewerbern ausgesucht.

Inzwischen leitet die quirlige Sängerin acht Chöre. „Jeder hat andere Qualitäten und wie ein Instrument auch seine eigene Klangfarbe", schwärmt sie über ihre Arbeit: Für die 19 Frauen des Chors „Musitanten" aus Nieder-Oberrod sucht sie ganz andere Chormusik aus, als zum Beispiel für den gemischten Chor aus Ruppertshain oder den Kirchenchor in Auringen oder natürlich für einen Frauenchor mit fast 50 Stimmen wie in Vockenhausen.

Der Erfolg gibt ihr Recht: Mit den Vockenhäuser Frauen konnte sie seit 1994 kontinuierlich die Leistung steigern und holte regelmäßig erste Preise und mehrmals den Dirigentenpreis auf etlichen Chorwettbewerben. Der 1. Platz beim Bundesleistungssingen 2002 war einer der großen Erfolge, genauso die Qualifikation für das Bundesleistungssingen im Frühjahr dieses Jahres.

Nur mit einem individuell auf sie abgestimmten Lieder-Programm können Chöre Enikö Szendreys Meinung nach ihre ganze Qualität entwickeln. Passt die Musik nicht zum Chor, „würde ich meinen Chor vergewaltigen", ist sie überzeugt und nennt als Beispiel Bach-Chöre: „Bach hat seine Chormusik für die Thomaner geschrieben. Kaum ein Frauen-Sopran kann diese reine und klare Höhe wie eine Altus-Stimme im Knabenchor bringen."
Die Werke der Romantiker wie Schubert, Brahms und auch Mendelssohn hatten ihrer Meinung nach zu lange und zu ausschließlich Konjunktur: „Chöre und Publikum brauchen auch neue Herausforderungen." Die findet Szendrey beispielsweise im Barock oder in der gregorianischen Musik des Mittelalters.



An manchen Tagen verbringe sie Stunden vor dem Computer, um im Internet nach neuer Chorliteratur zu suchen. Auch beim alljährlichen Chorleiterforum in Limburg ist sie regelmäßig zu Gast. Dort hatte sie zuletzt das neueste Werk des zeitgenössischen Komponisten Bob Chilcott entdeckt, die „Peace mass", mit dem die Vockenhäuser Frauen beim Jubiläumskonzert in der Laurentius-Kirche Furore machten.

„Ich arbeite gern mit zeitgenössischen Komponisten zusammen und suche dann auch möglichst den Kontakt zu ihnen. So hat sie für das nächste Konzert ihrer „Musitanten" aus Idstein eine Uraufführung geplant: Sie üben derzeit die Weihnachtliche Meditation des in Schloßborn lebenden Komponisten Professor Richard Rudolf Klein ein. Natürlich ist Enikös Terminkalender bis Weihnachten zum Bersten gefüllt: Der Ruppertshainer Männer- und Frauenchor singt am 13. November, die Musitanten singen in Ruppertshain am 1. Adventssonntag, 28. November, die Bermbacher „Bermissima" proben noch an ihrer anspruchsvollen Cornelius-Messe für Samstag, 4. Dezember, in Heftrich und der Auringer Kirchenchor für seinen Jahreshöhepunkt, die Messe am 2. Weihnachtsfeiertag.

Auch die Vockenhäuser Frauen wollen ihr Konzert vom September in der Laurentius-Kirche im nächsten Frühjahr wiederholen. Die Chorleiterin ist zuversichtlich, einen neuen Veranstaltungsort zu finden: „Wir haben so lange und so intensiv geprobt und haben so viel Zuspruch bekommen, dass wir noch eine weitere Aufführung planen."

Gute Chorliteratur zu finden sei an sich schon schwierig genug, für Frauenchöre gestaltet es sich wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen, sagt Szendrey. „Gerade in Deutschland fehlt nahezu ein Jahrhundert an Chorliteratur", klagt die Ungarin, die in ihrer Heimat mit Größen wie Bartök oder Kodály, Dvoräk und Smetana aufgewachsen ist. Sie haben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gewirkt und haben auch Musik-Theorie und -Pädagogik in ihrer Heimat umgekrempelt. Szendrey: „Ich habe im Kindergarten das Silbensingen nach Kodálys Theorien gelernt." Diese Tradition werde auch heute noch fortgesetzt, sagt Enikö Szendrey.

Frauenchöre gab es in Ungarn, in Tschechien oder- der Slowakei schon in den 20er Jahren. In Deutschland wagten die Frauen erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg den Schritt, eigene Chöre zu bilden - Eppsteins ältester Frauenchor von der Germania Bremthal feierte gerade sein 40-jähriges Bestehen.

Die klassischen Männerchöre hatten sich der Pflege alter Volksweisen und vor allem den Liedern der Romantiker verschrieben. „Kein Wunder, dass es deshalb in Deutschland auch keine Komponisten-Tradition für Frauenchöre gibt", analysiert Enikö Szendrey die Situation. Auch die aktuelle Musik-Szene werde von halb-professionellen Männer-oder gemischten Chören bestimmt. „Die Lieder, die für sie geschrieben werden, sind schwierig zu singen und dem Publikum kaum zu vermitteln", kritisiert sie.

Deshalb falle es vielen Chorleitern heute so schwer, neue Wege zu gehen, vermutet die Ungarin: Manche haben Ausflüge in die Pop- oder Musicalszene gewagt, „aber das ist Musik, die mit vielen Stimmen nur sehr schwierig umzusetzen ist."

Für sie sei es daher ganz wichtig, regelmäßig zu Chorleitertreffen und Fortbildungsveranstaltungen zu fahren, um sich Anregungen und neue Ideen zu holen. „Kollegen aus der hiesigen Umgebung treffe ich bei solchen Gelegenheiten nie", wundert sie sich, „andererseits klagen sie permanent, dass junge Leute so schwer zum Mitsingen zu motivieren seien."

Sie selbst hat in ihren Chören bislang fast nur Zulauf. Das jüngste Mitglied des Vockenhäuser Frauenchors ist Enikös 17-jährige Tochter Mila. „Unsere älteste Sängerin ist um die 80 Jahre alt, die meisten stehen jedoch noch mitten im Leben mit Beruf und Kindererziehung und kommen trotzdem regelmäßig zu den Proben", freut sich die Chorleiterin.

Beate Palmert-Adorff für Eppsteiner Zeitung 11.11.2004, S. 7